ADS (Hyperaktive Kinder)

von Dr. HELGA WÄTZIG aus dem Buch: "Das Respiratorische Feedback nach Leuner" , Gerhard S. Barolin (Hg)

1. Einleitung

Die große Stärke des Respiratorischen Feedbacks (RFB) besteht bekanntlich darin, dass der Patient sich nicht konzentrativ selbst entspannen muss, weil die sensorischen Eindrücke beim RFB automatisch positiven Einfluss auf den Entspannungszustand nehmen.

Alternative Methoden wie das Autogene Training nach Schultz und die Muskelrelaxation nach Jacobson setzen hingegen einen Patienten voraus, der sich nicht nur über sein Ziel - möglichst tiefe Entspannung - klar ist, sondern der auch willens und fähig ist, durch das konzentrierte Ausführen der entsprechenden Übungen auf dieses Ziel hinzuarbeiten.

Voraussetzungen sind jedoch z.B. bei Personen mit akuter psychischer Dekompensation oder bei hyperaktiven Kindern höchstens in Ausnahmefällen erfüllt. Hier wie dort kommt es darauf an, schnell und wirksam Entspannung herbeizuführen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen — und hier wie dort kann durch den Einsatz des RFB die Gabe von Psychopharmaka stark eingeschränkt und oft sogar ganz umgangen werden.

Notfallpatienten, also Patienten mit akuten psychischen Traumata, konnten durch eine sofortige RFB-Behandlung häufig schon bei einem anschließenden Gespräch mit der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse beginnen. Dadurch wurde nicht nur der Medikamenteneinsatz, sondern auch die Behandlungsdauer spürbar verringert.

Bei Kindern, die das hyperkinetische Syndrom — oder Hyperaktivität als isoliertes Symptom — zeigen, muss in meiner Praxis der Erfolg vor allem deshalb möglichst schnell sichtbar werden, weil sich mein Patientenkreis überwiegend aus Einwohnern ländlicher Gemeinden zusammensetzt.

Unter der Landbevölkerung ist der Gang zum Psychotherapeuten noch nicht so selbstverständlich wie in der Stadt, wo der Therapeut als Dienstleister für die Kinder eine ähnlich solide Stellung wie der Nachhilfelehrer einnehmen kann. Außerdem müssen die Kinder meistens von einem Elternteil — im allgemeinen der Mutter — zur Praxis und wieder nach Hause gebracht werden, was bei weiteren Fahrtstrecken sowie Zeit- oder Geldmangel schnell zum Abbruch der Behandlung führen kann, wenn sich nicht bald ein Erfolg zeigt. In den letzten Jahren hat sich diese Situation allerdings verbessert, weil die Eltern mittlerweile von Kindergärtnerinnen und Lehrern auf das RFB aufmerksam gemacht werden, und sie die Zustimmung zu einer Psychotherapie für ihr Kind nicht mehr unbedingt als Makel oder Schande ansehen.

2. Ergänzung und "Eisbrecher" — Kindertherapie

Ab dem dritten Lebensjahr können Kinder erfolgreich psychotherapeutisch behandelt werden. Das RFB kommt bei Kindern und Jugendlichen vor allem in zwei Funktionen zum Einsatz: Grundsätzlich kann es die beispielsweise tiefenpsychologisch fundierte verbale Psychotherapie begleiten und unterstützen. Es gibt jedoch auch viele Fälle, in denen das RFB als "Eisbrecher" wirkt und die Aufnahme therapeutischer Gespräche überhaupt erst ermöglicht ...

Die mit Abstand größte Gruppe unter den etwa 90 Kindern und Jugendlichen, die ich im Quartal behandle, sind die Hyperaktiven — in verschiedenen Ausprägungen und Abstufungen, aber generell mit steigender Tendenz. Etwa 95 Prozent dieser Patienten sind Jungen. In vielen Fällen läßt sich als eine der Ursachen für die Verhaltensauffälligkeiten übermäßiger Fernsehkonsum ausmachen.

Gerade bei einem Kind mit hochgradig hyperaktiven bzw. destruktiven Verhaltensweisen schlüpft der Therapeut in die Rolle des Sisyphos, wenn er versucht, dem Kind Übungen des Autogenen Trainings beizubringen — von der Muskelrelaxation nach Jacobson ganz zu schweigen. Man dreht sich hoffnungslos im Kreise, will man die Symptome eines hyperkinetischen Syndroms - zu denen gerade auch Konzentrationsschwäche gehört - durch das mühevolle und für Kinder oft nicht einsichtige Erlernen von Übungen behandeln, die hohe Konzentrationsfähigkeit verlangen. Neben verhaltensmodifikatorischen Ansätzen, Familienberatung oder anderen Formen der soziotherapeutischen Hilfe sowie speziellen schulischen Fördermöglichkeiten wurden daher in der Vergangenheit bei der Behandlung hyperaktiver Kinder häufig Psychopharmaka eingesetzt.

Neben Neuroleptika und Antidepressiva waren es vor allem Psychosti- Mulantien, insbesondere Amphetamine und Methylphenidat (Ritalin®), seltener auch Phemoline (Tradon®), denen eine positive Wirkung auf das Verhalten hyperkinetischer Kinder zugeschrieben wurde und die mit den geringsten Nebenwirkungen einhergehen sollten.

Bei etwa 75-80% der Patienten wurde eine positive Verhaltensänderung beschrieben, d.h. eine Reduzierung der übermäßigen motorischen Aktivität, eine Abnahme der Impulsivität und eine verbesserte Aufmerksamkeit. Interessanterweise führten Placebos bei bis zu 54% aller Fälle ebenfalls zu einer deutlichen Besserung. Eine sichere positive Langzeitwirkung konnte generell nicht beobachtet werden. Die Nebenwirkungen der genannten und anderer Präparate, wie z.B. Captagon®, ließen zudem Eltern und Therapeuten immer wieder befürchten, dass Jugendliche oder Erwachsene diese Medikamente als Drogen konsumieren oder unter Spätfolgen leiden könnten. Allerdings wurden zuweilen sogar gesunde Kinder als himgeschädigt eingestuft und mit Stimulanzien behandelt.

Bei Kindern unter fünf Jahren sollte eine medikamentöse Behandlung ohnehin nicht in Betracht gezogen werden. Mit RFB können hingegen Kinder schon ab drei Jahren behandelt werden, wobei sich außerdem die Dauer parallel laufender verbaler Behandlungen deutlich verkürzen läßt und keinerlei Psychopharmaka eingesetzt werden müssen.

Eine Vertrauensperson aus der Umgebung jüngerer Kinder - im allgemeinen ist das die Mutter - sollte bei den Übungen anwesend sein, um Ängste und Unruhe in der fremden Umgebung zu mildern. Außerdem führt das gemeinsame Erleben einer zunehmenden Entspannung erfahrungsgemäß zu einer Verbesserung der Mutter-Kind-Beziehung, die durch die Hyperaktivität des Kindes oft stark leidet. Nur zwei Prozent der hyperaktiven Kinder machten durch ihren massiven Protest gegen das RFB eine erfolgreiche Behandlung unmöglich.

Zum Einstieg sind kurze Behandlungen von etwa 15 Minuten empfehlenswert. Häufig lassen sich kritischere Jungen motivieren, indem man ihnen die Kopfhörer als Teil einer „Pilotenausrüstung“ anpreist — mit dem Hinweis: „Mama paßt auf, dass du uns nicht wegfliegst“.

Nach einer viertelstündigen Sitzung ist ein hyperaktives Kind natürlich nicht entspannt. Dem Kind und seiner Begleitperson muss zuvor klargemacht werden, dass das Ziel der Behandlung darin besteht, die Entspannung - gegebenenfalls mit Unterstützung der Eltern - selbständig und zu jeder Zeit abrufen zu können, indem das Kind seinem eigenen Atem zuhört.

Um das zu erreichen, genügen meist insgesamt 20 Sitzungen bei anfänglich zwei bis drei Behandlungen pro Woche; in vielen Fällen sind sogar 15 Behandlungen ausreichend. Eine Behandlungsdauer von 20 Minuten hat sich bei Kindern als zweckmäßig erwiesen. Bei ablehnenden Jungen sind zu Anfang auch Belohnungen durch die Eltern notwendig, damit sie sich zur regelmäßigen Teilnahme an den RFB- Behandlungen motivieren lassen. Bald aber bringen die Kinder die Motivation selbst auf, z.B. weil sich ihre Schulnoten im allgemeinen spürbar verbessern und sie bemerken, wie positiv ihr soziales Umfeld auf ihr „entspannteres“ Verhalten reagiert.

Bei einem achtjährigen blinden Jungen mit stark ausgeprägter Hyperaktivität und heftigen Tics zeigte sich trotz der nur auf den Gehörsinn beschränkten Behandlung ein deutlicher Erfolg. Nach wenigen Wochen war der zuvor in keine Klassen- und Hausgemeinschaft seines Blindeninternats integrierbare Junge nicht nur in der Schule weitgehend unauffällig und fröhlich, sondern terrorisierte auch seine - sehenden - Geschwister zu Hause nicht mehr. Zitat:
"In der Schule mach‘ ich auch Feedback. Wenn mich die anderen aufregen, hör‘ ich dem Atmen zu und denk‘ gar nicht mehr an die. So zur Selbstverteidigung mach ‘ich´s auch - immer wenn ich nervös bin."